Die Tiefe des Raumes mit Sechszylinder
Na, womit assoziieren Sie den Ford Granada? Die letzte Vollfettstufe aus Köln? Der Wagen, der im Vorspann der "Profis" durchs Fenster fliegt? Oder der Dienstwagen von Thanner und Schimanski? Wie wäre es mit Günter Netzer? Moment mal. Der ist doch nie einen gefahren. Richtig, aber es geht mir auch mehr um das legendäre, auf Netzer gemünzte Zitat "Die Tiefe des Raumes". Nichts scheint nämlich besser zum Granada zu passen.
Und genau dieses Zitat kommt mir spontan in den Sinn, als ich nach 42 Jahren auf diesem Planeten zum ersten Mal einen Ford Granada fahren darf. Genauer gesagt: Einen 2.8 Injection als Turnier. Blütenweiß mit mattschwarzen Fenstereinfassungen. Dazu TRX-Alufelgen der Größe 150 TR 390, mächtige Halogen-Fernscheinwefer und ein Spoilerchen namens "Speed-Lip" über der Heckscheibe.
Der Chef-Kombi unter den Granadas also. Für alle, denen ein Mercedes T-Modell anno 1984 zu teuer war. Und die einfach gigantisch viel Platz brauchten. Das macht der "Granni" schon von außen klar: 4,89 Meter ist er lang, 1,80 Meter breit und 1,42 Meter hoch. Heutzutage lächeln wir darüber nur müde, doch damals waren solche mächtigen Abmessungen nicht allein zur seelischen Befriedigung des Chefdesigners und für drei Quadratmeter Kühlergrill da. Sondern klare Kanten für eben die "Tiefe des Raumes".
Und zwar im doppelten Sinne: Ins Heck des Turnier (das bei allen Generationen des Granada gleich war) passen abnorme 1.150 bis 2.150 Liter Gepäck. Ladelänge bis zum Fahrersitz? Maximal 2,06 Meter. Sehr beruhigend. Falls der Granada mir in der Pampa verreckt, kann ich darin zur Not übernachten. Aber ich begreife, warum bis in die 1990er-Jahre hinein unsere ausländischen Mitbürger für die Heimfahrt mit Kind und Kegel einen Granada Turnier nutzten.
Am besten mit einem der vielen V6-Benziner, die beim Granada praktisch gesetzt waren. Wenn schon Vierzylinder, dann gleich Taunus oder Sierra. Aber es gab durchaus schwächere Motoren im damaligen Ober-Ford: 105 PS aus einem 2,0-Liter-Vierzylinder oder gar nur 69 PS im 2,5-Liter-Saugdiesel, den Peugeot beisteuerte. Kurzzeitig war nach dem Facelift der zweiten Generation im September 1981 auch ein 1,6-Liter-Benziner mit 75 PS im Programm. 17,5 Sekunden auf Tempo 100 waren dann aber doch nicht so der Hit.
Sagte ich gerade Facelift? Lassen Sie uns kurz die Granada-Historie abhandeln. Vorstellung 1972 als Consul und Granada, der einfach ausgestattete Consul entfällt 1975. Das Design ist eher wuchtig-amerikanisch, weshalb die zweite Generation ab 1977 sachlicher und fast italienisch wirkt.
Das kommt sehr gut an, im gleichen Jahr erreicht Ford in Europa unglaubliche 17,2 Prozent Marktanteil. Im September 1981 bringt Ford das erwähnte Facelift mit über 2.000 geänderten Teilen. Anfang 1985 löst der windschnittige Scorpio den kantigen Granada ab.
Auf klare Kanten blicke ich auch im Innenraum, nachdem ich auf den ergonomisch guten Recaro-Velourssitzen Platz genommen habe. Zunächst einmal fällt mir die enorme Rundumsicht auf: Große Fenster, schmale Dachpfosten. Allerdings hat insbesondere der Turnier einen miserablen cW-Wert.
Vor mir protzt das geradlinige Kunstholz-Cockpit mit Drehzahlmesser, Amperemeter und einer Öldruckanzeige. All das war beim 2.8 Injection serienmäßig, natürlich auch der fette "Injection"-Schriftzug am Heck. Mit einer Einspritzung konnte man damals noch angeben. Aufpreispflichtig war das Infotainment des Jahres 1984: Cassettenradio und Bordcomputer.
Jetzt aber genug dem Achtziger-Charme gehuldigt: Ich greife ins Kunststoff-Lenkrad mit dem seltsam kleinen Ford-Logo und drehe den Zündschlüssel. Da ist er, jener charakteristische V6-Sound von Ford. Nicht turbinenhaft wie beim BMW-Reihensechser, eher bullig mit zarten V8-Anklängen. Wie ein hemdsärmeliger Bauunternehmer aus Köln, der zur Not selbst anpackt gegenüber einem eleganten Rechtsanwalt aus München.
Ach ja: Ich darf nicht vergessen, die Niveauregulierung bei Laune zu halten. Gelegentlich pumpen wird empfohlen. Maximal darf der Kombi übrigens 690 Kilogramm zuladen. Unter der großen Haube, Modell Tischtennisplatte, steckt der namensgebende 2,8-Liter-Einspritzer des Injection. Viel Hubraum, aber "nur" 150 PS Leistung. Da ist sie wieder, die Tiefe des Raumes.
Wo heute apfelsinengroße Motörchen wie selbige ausgequetscht werden, setzt der Granada-Block auf pure Größe. Allzu rasant ist der 2.8 Injection nicht: 11,4 Sekunden braucht der Turnier auf auf Tempo 100, die aerodynamisch deutlich bessere Limousine "nur" 9,9 Sekunden. Maximal gibt es 216 Newtonmeter Drehmoment bei 4.000 Touren. Effizienz? Nicht mal mit Einspritzung. 13,9 Liter im Schnitt sagt die Werksangabe, 16,2 Liter gar in der Stadt. Nur gut, dass 65 Liter Sprit in den Tank passen.
Mit niedriger Drehzahl orientiere ich mich in Richtung Autobahn, bei jedem Anfahren genieße ich die Geräuschkulisse des Sechszylinders. Doch auf der Schnellstraße trübt sich die Stimmung ein. Das nicht sonderlich präzise Fünfgang-Schaltgetriebe ist im höchsten Gang zu kurz übersetzt. Mehr als Tempo 130 will ich meinen Ohren und dem 36 Jahre alten Granada nicht zumuten. 73 dB (A) bei 100 km/h sollen es laut Ford sein. Fest steht: Das Radio brauche ich gar nicht erst anzustellen, der Turnier bietet genügend Resonanzkörper.
Apropos Radio und Autobahn: Ab Anfang 1979 war eine Flotte von Granada-Limousinen mit 2,8-Liter-V6 und 135 PS für Radio Luxemburg (RTL) auf den Autobahnen unterwegs. Im westdeutschen Einzugsgebiet von RTL fuhren die Ford von Freitag bis Sonntag und meldeten Staus nach Abklärung mit der Polizei über Düsseldorf nach Luxemburg. So war man in Sachen Verkehrsfunk meist brandaktuell.
Doch diese Zeiten sind lange vorbei, inzwischen weiß die Navi-Else in meinem Smartphone, was Phase ist. Am zähfließenden Verkehr kann sie freilich auch nichts ändern. Ich muss recht plötzlich bremsen und merke, dass beim Granada Turnier doch ein gewisses Gewicht verzögert werden will: 1.430 Kilogramm sind es leer.
Im Stop-and-Go sinniere ich über den Granada nach: Die Lenkung ist überraschend direkt, die Federung trotz Einzelradaufhängung nicht superschmusig. Vielleicht liegt es an den verstärkten Federn und Dämpfern des Injection. Wirklich toll ist dagegen der V6, mir würde aber vermutlich zum entspannten Dahingleiten der 2,3-Liter genügen, am liebsten mit Automatik. Und das Ganze als Limousine, zumal der Turnier eh extrem selten geworden ist.
Etwas mehr als 1,6 Millionen Ford Granada wurden in 13 Jahren gebaut. Die meisten wurden schlicht verbraucht, sofern sie nicht schon vorher dem Rost zum Opfer fielen. Ab 1982 wurde es in Sachen Rostvorsorge etwas besser, aber man sollte in jedem Fall die Aufhängung des Differenzialquerträgers im Kofferraum prüfen.
Im Gegensatz zur ersten Generation ist der zweite Granada aber noch verhältnismäßig günstig zu haben: Unter 10.000 Euro entdeckt man problemlos gute Fahrzeuge, was sich mit den Angaben in einschlägigen Oldtimer-Übersichten deckt. Denn mal ehrlich, einen Mercedes W 123 hat doch jeder. Ich muss wohl mal die Tiefe des Raumes auf meinem Konto prüfen.